Home
Lebenslauf
Schriften
Vorträge
Konzepte
Abstrakts
Bilder
Links
Diplomarbeit 2. Teil

6 Motivationsfördernde Maßnahmen der Jugend- und Drogenberatungsstelle München

In den vorherigen Kapiteln habe ich die Therapiekette für die Behandlung von Alkohol und Drogenabhängigen ausführlich theoretisch erläutert. In den folgenden Kapiteln möchte ich die praktische Durchführung der einzelnen Therapieschritte hinsichtlich des Motivations- und Orientierungsprozesses näher darstellen.

Da sich meine praktischen Erfahrungen auf die Entwöhnungsphase beschränken, bin ich auf Informationen von Mitarbeitern der Kontakt- und Entgiftungsphase angewiesen.

Von der Jugend- Drogenberatungsstelle der Stadt München stellte sich der Diplom Psychologe Seifert meinen Fragen.

Herr Seifert arbeitet seit elf Jahren in der "Drobs", seit fünf Jahren leitet er stellvertretend die Drogenprävention. Neben der Multiplikatorenfortbildung und den Informationen für Interessenten in der Öffentlichkeit und den Medien führt der ausgebildete Gesprächspychotherapeut Beratung und Therapie von Alkohol- und Drogengefährdeten, -abhängigen und Ex-Usern (ehemals Abhängige) durch. Zudem betreut er Partner und Angehörige von Abhängigen.

Folgendes Interview führte ich Mitte Januar 1990 mit Axel Seifert:

Autor: Welches sind die Aufgaben und Arbeitsbereiche der Städtischen Jugend- Drogenberatungsstelle in München?

Seifert: Die Drobs in München gliedert sich in drei Bereiche. Die Beratungsstelle in der Pettenkoferstr. 40 steht drogen-, alkohol- und medikamentenabhängigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, deren Angehörigen und Kontaktpersonen offen. Diese Beratungsstelle bietet Kontaktgespräche, weiterführende Beratung, Vermittlung in stationäre Behandlung, Nachsorge, Betreuung von Häftlingen in der JVA Stadelheim, ambulante psychotherapeutische Behandlung, medizinisch- psychiatrische Betreuung und ärztliche Gutachten an. Zudem berät sie Eltern, Angehörige und Freunde von Abhängigen in Einzel und Gruppengesprächen. In der Pettenkoferstr. 47 werden drogengefährdete Jugendliche und junge Erwachsene, deren Angehörige und Kontaktpersonen in Einzel-, Gruppen- oder Familienberatungen und -therapie betreut. Zudem wird die medizinischpsychiatrische Betreuung übernommen, und es finden Gruppenangebote im kreativen Bereich, wie z.B. Töpfern oder Photographieren statt. Drogenprävention steht im Mittelpunkt der Arbeit in der Beratungsstelle in der Augustenstr. 47. Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und andere fachlich interessierte Berufsgruppen sowie Jugendgruppen, Presse, Rundfunk und Fernsehen erhalten hier fachliche Auskünfte und Fortbildung.

Autor: Wie kommt es zum Erstkontakt zwischen Beratungsstelle und Betroffenen?

Seifert: Durch Informationsveranstaltungen, die Presse oder Mund-zu-Mund Werbung werden Alkohol- und Drogenabhängige und -gefährdete auf uns aufmerksam. Sie können uns anrufen oder von Montag bis Freitag zwischen 10 und 15 Uhr in eine der Beratungsstellen kommen. Alkohol- und Drogengabhängigkeit ist selten ein persönliches isoliertes Problem. Es spielt sich oftmals in einer festen Gruppe ab. Wenn nun ein Abhängiger aus einer dieser Gruppen aussteigen möchte, versuchen wir über ihn Zugang zu den restlichen Gruppenmitgliedern zu bekommen. So kann es, nachdem einer den Anfang gemacht hat, gelingen, daß ein größerer Teil ihm folgt und ebenfalls zu uns in Beratung kommt. Häufig rufen auch betroffene Eltern oder andere Angehörige und Freunde bei uns an, und bitten uns um Hilfe. Hierüber kann es gelingen, den Abhängigen von Anfang an oder zumindest nach einer gewissen Zeit mit in die Beratung einzubeziehen. Immer wieder werden uns Klienten von bestimmten Institutionen, wie z.B. Justiz, Schulen oder Freizeitheimen mehr oder weniger zwangsweise vermittelt. Selbst werden wir in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim tätig. Dort bieten wir Informationsveranstaltungen und Einzel- oder Gruppenberatungen an. Streetwork führen wir momentan nicht durch.

Autor: Durch welches Vorgehen oder durch welche Maßnahmen wird der Abhängige zu einer Entwöhnungsbehandlung und damit zur dauerhaften Abstinenz motiviert?

Seifert: Am Anfang der Beratung in der Kontaktphase steht meist der Leidensdruck des Klienten. Dieser Leidensdruck entsteht durch das Abnehmen der positiven Erlebnisse mit dem Suchtmittel, die meist mehr als angespannte finanzielle Situation, das Erleben des Lebens als Belastung, den Unwillen zu jeglicher Aktivität, die Unzuverlässigkeit und die Unmöglichkeit zu stetiger Leistung. Der Leidensdruck verstärkt sich weiter, weil infolge des erstgenannten sowie des zunehmenden "Ausnehmens" des sozialen Umfelds zwischenmenschliche Kontakte abnehmen und sich der Ab-hängige so isoliert. Am Anfang der Kontaktphase steht der Wunsch des Klienenten, man möge ihm seinen Leidensdruck abnehmen, ohne daß er jedoch auf sein Suchtmittel verzichten muß. Hier ist es wichtig, baldmöglichst einen positiven Kontakt aufzubauen und dem Abhängigen das Gefühl zu geben, akzeptiert und anerkannt zu werden. Durch die erlebte Fachkompetenz gewinnt der Betrofffene schnell Vertrauen und hält dann zunehmend auch Belastungen der Beziehung zum Berater aus. Der Abhängige muß sich selbst klarmachen, daß er an der eigenverantworteten Sucht leidet. Es ist hier nicht hilfreich, Ursachen, Verantwortung oder Schuld bei anderen oder der Gesellschaft zu suchen. Auch müssen Suchtmittelmißbrauch und Leidensdruck als zusammenhängend erlebt werden. Nicht der "Polizeistaat" ist an den Folgen schuld, sondern der Abhängige selber. Er muß akzeptieren, daß die Ablösung aus der Sucht ein langsamer Prozeß ist, der durchaus drei bis fünf Jahre dauern kann. Ich verstehe meine Arbeit so, daß ich den Leidensdruck noch forciere, indem ich beispielsweise Eltern rate, ihr Kind doch auf die Straße zu setzen, wenn es sich ausschließlich auf ihre Kosten ernähren möchte. In der Regel wird die Bereitschaft zu einer Langzeittherapie erst nach einem mißglückten ambulanten Versuch und nach erneuten Rückfällen entstehen. In diesem Prozeß mache ich dem Betroffenen Mut, auch nach, meiner Ansicht nach erforderlichen, Rückschlägen weiter an sich und seine Chance zum cleanen Leben zu glauben. Nach der ersten Entwöhnungsbehandlung ist es notwendig, den Abhängigen weiter zu betreuen. Oftmals kommt es hier zu erneuten Rückfällen, die zunehmend nicht mehr aufgefangen werden können. Die Rückfälle können aufgearbeitet werden, eine erneute oder aber auch eine dritte Entwöhnungsbehandlung ist die Regel.

Autor: Welches sind Ihrer Meinung nach die zentralsten motivationsfördernden Inhalte?

Seifert: Im Mittelpunkt steht die Verstärkung des Leidensdrucks bis der Abhängige diesen als eigenverantwortet akzeptiert sowie der Versuch ihm den prozeßhaften Charakter der gesamten Therapiekette zu verdeutlichen.

Autor: In welchem Verhältnis stehen Eigen- und Fremdmotivation?

Seifert: Ohne massiven Außendruck wird kein Abhängiger seine Sucht beenden wollen und können. Diese Fremdmotivation muß allerdings zusammen mit dem Klienten aufgearbeitet werden. Er muß verstehen und erkennen, daß der Druck und die Repressalien von außen normale und selbstverschuldete Reaktionen der Umwelt auf sein süchtiges Verhalten sind. Indem der Abhängige lernt, für eigenes Verhalten verantwortlich zu sein, kann die Fremd- zur Eigenmotivation werden und so eine feste Entscheidung gegen die Sucht unterstützen. Dennoch ist die Motivation des Süchtigen extrem ambivalent und auf Zeitgewinn gerichtet. Er schwankt anfangs ständig zwischen dem "nicht süchtig sein wollen" und dem "nicht verzichten wollen". Daher stammen auch die häufig zu höhrenden Beteuerungen wie: "Morgen höre ich ganz bestimmt auf, heute hingegen kann ich es noch nicht".

Autor: Die Einstellungsänderung gegenüber Alkohol und Drogen ist Voraussetzung für die Behandlung. Wie versuchen Sie dies zu erreichen?

Seifert: Indem ich dem Abhängigen die negativen Konsequenzen anhand seines eigenen Leidens aufzeige.

Autor: Wie bereiten Sie den Patienten konkret auf die Langzeittherapie vor?

Seifert: Vorweg möchte ich sagen, daß nach meiner Erfahrung kaum ein Abhängiger nach einer ambulanten Therapie auf Dauer trocken bleibt. Trotzdem sind diese Versuche unbedingt notwendig, um die erforderliche Motivation für eine stationäre Langzeittherapie aufzubauen. Bevor der Süchtige in die Therapie geht, muß er wissen und akzeptieren, daß persönliche Freiheiten eingeschränkt werden, daß sinnlose Rituale und Ungerechtigkeiten vorkommen und daß der Tagesablauf meist streng gegliedert ist. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dem Abhängigen das Gefühl zu geben, daß, auch wenn er die Therapie nicht schafft, nicht alles verloren ist. Der gesamtprozeßhafte Charakter der Therapiekette und die Langfristigkeit der Behandlung sollten auch hier herausgestellt werden. Zudem müssen konkrete Vorbereitungen getroffen werden. Die Kostenzusage muß beantragt werden, Atteste und Sozialberichte müssenerstellt werden, und die finanzielle Situation sowie die Frage, was mit der Wohnung geschehen soll, müssen abgeklärt werden. Vor der Aufnahme in die Klinik sollte die Nachsorge bei dem gleichen Mitarbeiter vereinbart werden.

Autor: Inwieweit wird der Abhängige in diese Vorbereitungen mit einbezogen?

Seifert: Er soll soviel wie möglich selbst erledigen. Besonders die Behörden- und Arztangelegenheiten macht er selbständig. Auch das Engagement für die Therapie ist ein Teil der Motivation, die Wahrscheinlichkeit eines Therapieabbruchs wird dadurch sicherlich gesenkt. Ich verstehe gerade diesen Punkt als Hilfe zur Selbsthilfe. Leider ist es in den JVAs nicht möglich, dem Klienten Eigenverantwortung zu übergeben.

Autor: Wie könnte man den Verlauf der Kontaktphase kurz charakterisieren?

Seifert: Die Kontatphase ist wie die ganze Therapiekette auch eine Kette von Fehlversuchen und Motivation. Rückfälle gibt es häufig, sie bedeuten jedoch nicht das Ende der Behandlung. Der Therapeut muß an die Möglichkeit des Erfolgs glauben und mit Humor Rückschläge verkraften.

Autor: Durch welche Situationen oder Schwierigkeiten wird die Motivation des Abhängigen beeinträchtigt?

Seifert: Suchtverlängerndes Verhalten in bester Absicht des sozialen Umfelds kann den Leidensdruck des Abhängigen soweit senken, daß dieser sicher nicht weiter clean oder trocken leben will. Hier ist besonders auf die sogenannte Co-Abhängigkeit hinzuweisen. Partner von Süchtigen haben häufig ein unbewußtes Interesse an der Suchterhaltung, wodurch sie immer wieder Situationen herbeiführen, die zum Rückfall führen können. Sie wollen zwar, daß der Partner nicht mehr säuft oder fixt, grundlegend verändern soll er sich allerdings nicht. Behandelt soll nur die Abhängigkeit vom Stoff, nicht aber die Abhängigkeit in der Beziehung oder das Verhältnis zu Gefühlen werden. Da dies aber nicht möglich ist, nicht sinnvoll und auch nicht helfend wäre, spürt der Partner des Abhängigen die Veränderung, reagiert mit Angst und provoziert unbewußt den Rückfall. Bei den häufigen Versuchen der Selbstentziehung sind die Angehörigen von Betroffenen schwer belastet. Nicht wenige raten dem Süchtigen, doch wieder Drogen oder Alkohol einzunehmen, damit diese Qual für sie ein Ende hat. Auch die Angst des Abhängigen vor der Verfolgung länger zurückliegender Straftaten oder vor Aids kann die Motivation für eine Langzeittherapie mindern.

Autor: Herr Seifert, vielen Dank für dieses Gespräch.

Herr Seifert charakterisiert in diesem Interview sicherlich einen möglichen Idealzustand. Wichtig erscheint mir vor allem die Bedeutung des Leidensdrucks für die Therapiemotivation zu sein. Allerdings gebe ich hier zu bedenken, daß sich ein übermäßig starker Leidensdruck auch negativ auf die Therapiemotivation auswirken kann. "Bis zu einer gewissen Stärke des Leidensdrucks steigt die Therapiebereitschaft bzw. -fähigkeit an, ist dieser Punkt überschritten, so sinkt sie ab" (Osterhues, 1989b, S.4). Dies erscheint einleuchtend zu sein, wenn man bedenkt, daß Selbstvertrauen und Mut ebenso motivationsfördernd wirken.

Ergänzen möchte ich die Ausführungen von Herrn Seifert noch in folgendem Punkt: Der Abhängige muß, bereits bevor er eine Langzeittherapie beginnt, neue Zukunftsperspektiven besitzen. Dies kann zum einen die Erwerbstätigkeit im allgemeinen Sinn, können aber auch konkrete Vorhaben für die abstinente Zukunft sein. Aufgabe der Beratungsstellen sollte es hier sein, mit dem Abhängigen zusammen Ziele für die Zeit nach der Therapie aufzustellen.

Ein durch die Mithilfe der Alkohol- oder Drogenberatungsstelle gut motivierter Patient kann die Angst vor den Entzugssymptomen überwinden und alsbald in die Entgiftungsphase eintreten.

7 Entgiftung und Motivation

Die zweite Phase der Therapiekette, die körperliche Entgiftung, wird in Allgemeinkrankenhäusern, Psychiatrischen Kliniken oder Universitätskliniken durchgeführt.

Dabei ist es wichtig, die in der Kontaktphase aufgebaute Motivation für die Entwöhnungsbehandlung weiter zu verstärken, und Patienten, die bisher keine Eigenmotivation besaßen, neu zu motivieren.

Die Durchführung der Entgiftungsbehandlung möchte ich am Beispiel der Suchtstation des Bezirkskrankenhauses Haar darstellen. Herr Dr. Dr. Tretter, der ärztliche Leiter der Station 12/2A, stellte sich freundlicherweise meinen Fragen zur Praxis der Entgiftung und der Motivationsarbeit auf seiner Station.

Im zweiten Teil dieses Kapitels möchte ich die durch Herrn Dr. Dr. Tretter geäußerte Kritik an der momentanen Entgiftungssituation aufgreifen und als Alternative zu den bestehenden Möglichkeiten die Konzeption von "NEST", einem psychotherapeutisch begleiteten körperlichen Entzug, als neuen niederschwelligen Weg in der Drogenhilfe darstellen.

7.1 Motivationsfördernde Maßnahmen der Suchtaufnahmestation des Bezirkskrankenhauses Haar

Das Bezirkskrankenhaus Haar hat zwei Suchtaufnahmestationen mit je 30 Betten für den körperlichen Entzug von Drogen-, Medikamenten- und vor allem Alkoholabhängigen. Jeder dieser Abteilungen ist eine Folgestation mit der gleichen Bettenzahl angegliedert. Hier können Patienten, die auf die Kostenzusage oder auf den Aufnahmetermin für eine Entwöhnungsbehandlung warten, untergebracht und betreut werden. Darüber hinaus bietet das BKH Haar eine sechs- bis zwölfwöchige Kurzzeittherapie für Alkoholiker an. Jede der Stationen ist personell mit drei Ärzten, einem ärztlichen Leiter, einem halben Sozialpädagogen und einem halben Psychologen besetzt.

nahmen die beiden Suchtaufnahmestationen zusammen 2400 Patienten neu auf, die durchschnittliche Verweildauer betrug je Abteilung neun Tage. Die Aufnahmezahlen stiegen von 1983 bis 1988 um 140%, 1983 wurden insgesamt rund 1000 Patienten in den Suchtstationen behandelt.

Lediglich ein geringer Anteil der in den Suchtstationen behandelten Patienten macht einen geplanten Entzug im Rahmen der Therapiekette. Weitaus häufiger werden Patienten mit pathologischen Rauschzuständen und ausgeprägt aggressiven, depressiven oder paranoiden Verhaltensweisen oder Symptomatiken eingewiesen. Oftmals liegt der Einweisung eine massive Selbst- oder Fremdgefährdung sowie eine akute ungewollte Entzugssituation oder eine gefährliche Intoxikation zu Grunde.

Einige Patienten werden zwangseingewiesen, indem das Vormundschaftsgericht ihnen einen Teil der Geschäftsfähigkeit entzieht und ein Vormund oder Pfleger die Behandlung anordnet.

Bei diesem Patientenkreis ist nur mit wenig Krankheits- und Behandlungseinsicht zu rechnen, die meisten verleugnen ihre Sucht.

Neben der intensivmedizinischen steht die psychosoziale Betreuung des Abhängigen im Mittelpunkt des Interesses.

Während der ärztlichen Visiten und vor allem in den einmal wöchentlich stattfindenden Gruppensitzungen der Suchtaufnahmestationen versuchen die Mitarbeiter, die Patienten über die Suchtkrankheit zu informieren, über die Behandlungsangebote aufzuklären und solche zu vermitteln sowie den Entscheidungsprozeß zu einer Langzeittherapie voranzutreiben.

Herr Dr. Dr. Tretter führte in unserem Gespräch aus, daß es in der Entgiftungsphase nur darum gehe, Zeiträume zu schaffen, in denen sich der Abhängige mit seiner momentanen Situation und den dafür verantwortlichen Ursachen auseinandersetzt. Er versucht Patienten zu motivieren, indem er der akuten Situation, oftmals nach einer Zwangseinweisung, die als Ursache anzunehmenden Sucht gegenüberstellt. Die Suchtkrankheit steht in einem kausalen Verhältnis zu den Folgen, insbesondere zu der als unfrei empfundenen Situation in einer geschlossenen Station im BKH Haar. Wenn der Patient nun das Ergebnis des "Spiegelns" akzeptiert, kommt es, so Tretter, häufig zur Aufhebung von Verdrängungsprozessen und Schuldzuweisungen, indem sich der Patient sein eigenes Problem der Sucht eingesteht. Der Motivationsprozeß in der Entgiftungsphase sollte mit einer weitgehenden psychischen Stabilisierung abschließen.

In den Nachfolgestationen, in denen die Patienten in der Regel vier bis sechs Wochen auf ihre Kostenzusage und auf ihren Therapieplatz warten, wird versucht, die Ausgangsmotivation durch Literaturtherapie zu verstärken und Betroffenheit über die Suchtkrankheit herzustellen.

Unter Literaturtherapie versteht Dr. Dr. Tretter Bücherbesprechungen von ausgewählten Werken, in denen über die Suchtproblematik theoretisiert (z. B. "Suchtfibel" von Schneider) oder persönliche Suchtkarrieren authobiographisch (z. B. "Warum war die Nacht so lang" von Duvall) aufgearbeitet werden. Viele der Patienten können hier ihr Bedürfnis nach anspruchsvoller Freizeitbeschäftigung und gegenseitigem Gedankenaustausch befriedigen. Die Mitarbeiter verfolgen darüber hinaus die pädagogische Absicht, daß bestimmte Textpassagen Erinnerungen an eigene Erlebnisse des Patienten weken, er sich damit auseinandersetzt und zu persönlichen Berichten animiert wird.

Individuelle Erfahrungen bestimmen maßgeblich das Textverständnis. Die Patienten machen sich durch die Identifikation mit literarischen Personen selbst zum Thema, sie können persönliche Probleme und Konflikte geschützter ansprechen. Letztlich wird damit die Krankheitseinsicht vertieft, neue Denkanstöße gegeben und werden wichtige persönliche Bereiche angesprochen. Zumindest wird die Motivation, sich mit abhängigkeitsspezifischen Problemen auseinanderzusetzen, erhöht.

Auch wenn der Therapeut als Macht- oder Autoritätsperson, wie es bei Abhängigen typisch ist, generell oder nur teilweise, vor allem aber in seinen Über-Ich Funktionen abgelehnt wird, kann sich der Süchtige mit den autobiographisch schreibenden Autoren identifizieren und so an ihren erfolgreichen Problembewältigungsstrategien partizipieren.

Herr Dr. Dr. Tretter sucht darüberhinaus noch weitere Methoden, um der Verleugnung der Abängigkeitskrankheit zu begegnen.

Die Literaturtherapie ist meines Erachtens ein vielversprechender Weg, Abhängige während der Entgiftungsphase zu motivieren, da hier kaum Raum und Zeit für intensivere therapeutische Aktionen vorhanden ist.

Während ihres Aufentalts sollen sich die Patienten durch die Arbeitstherapie an reguläre Tagesabläufe gewöhnen und Selbstkontrolle und Ausdauer eintrainieren. Die Arbeitstherapie umfaßt Tütenkleben, Schrauben sortieren und Stromkabel zusammenlöten, aber auch anspruchsvollere Tätigkeiten in der Gärtnerei, der Weberei und dem Schreibbüro.

Die Durchführung der Entgiftungsphase in einem Bezirkskrankenhaus bringt nach Ansicht von Herrn Dr. Dr. Tretter zahlreiche Probleme mit sich.

Bezirkskrankenhäuser sind verpflichtet, jeden Patienten mit psychiatrichem Diagnosebild aufzunehmen. Dadurch kommt es in den Suchtabteilungen zu einem hohen Anteil von zwangseingewiesenen Patienten. Die Ausgangsmotivation bei dieser Patientengruppe ist sehr gering, eine Langzeittherapie wird fast immer kategorisch abgelehnt, da der eigene Gefährdungsgrad verleugnet oder verkannt wird. Diese Patienten zu einer Auseinandersetzung mit sich und ihrer Sucht zu motivieren, ist fast immer ergebnislos. Sie verbleiben nur wenige Tage auf der Station, sobald die körperliche Symptomatik abgeklungen und damit die Voraussetzungen für die angeordnete Behandlung nicht mehr vorliegen, müssen diese Patienten, sofern dies ihr Wunsch ist, wieder entlassen werden.

Viele, durch die Beratungsstelle gut motivierte Patienten lehnen die Entgiftung in einem BKH ab. Nun läßt die Entzugsbettensituation gerade in München vielen Abhängigen keine andere Wahl, sie müssen im BKH Haar ihre Entgiftung machen, auch wenn sie die Einrichtung als solche ablehnen. Die ohnehin ausgeprägte Angst vor der Entgiftung wird dadurch noch vergrößert, die Ausgangsmotivation sinkt.

Die Entgiftungsphase dauert in der Regel nur wenige Wochen. Da die Gruppensitzungen der einzelnen Stationen allerdings nur einmal pro Woche stattfinden, kann eine Kontinuität in der Motivationsarbeit kaum erreicht werden. Die täglichen Visiten können dieses Defizit aus Zeitgründen nicht annähernd ausgleichen.

Die personelle Situation ist völlig unzureichend. Auf einen Sozialpädagogen oder Psychologen kommen 60 Patienten. Die Ärzte sind mit der intensivmedizinischen Betreuung ausgelastet, die psychiatrischen Pfleger und Krankenschwestern haben in der Regel keine suchtspezifische Ausbildung.

Die in klassischen Einrichtungen, wie Bezirkskrankenhäuser, Universitätskliniken und Allgemeinkrankenhäusern, durchgeführten Entgiftungsbehandlungen lassen viele Wünsche nach einem durchgängigen Motivationsprozeß in der Therapiekette unerfüllt. Ich möchte damit nicht die Qualität und das Engagement der Mitarbeiter in diesen Einrichtungen in Frage stellen, vielmehr scheint es mir wichtig, über die momentan bestehende Situation nachzudenken und Alternativen zu entwickeln.

Im folgenden Katitel möchte ich eine "bayerische Alternative" (Osterhues, 1989, S. 4) zu den bestehenden Entgiftungseinrichtungen für Opiatabhängige vorstellen und die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf Alkohol- und Medikamentenabhängige prüfen.

7.2 "Nest"-Entzugsklinik, eine alternative Konzeption

Die Konzeption für eine Daytop/Phönix eigene Entzugsklinik wurde im Sommer 1989 von Dr. Osterhues vorgestellt.

Der Name "Nest" für das Fachkrankenhaus für den psychotherapeutischen Entzug von Opiatabhängigen bedeutet Narkotika-Entzug mit Schmerz-Therapie. Er soll Gemeinschaft, Geborgenheit, Wärme und Schutz für einen zeitlich begrenzten, wachstumbringenden Aufenthalt in einer therapeutischen Gemeinschaft ausdrücken (vgl. Osterhues, 1989, S. 28).

In mehreren Städten der Bundesrepublik sollen Kontaktstellen eingerichtet werden, bei denen sich Bewerber für einen Entgiftungsplatz anmelden können. Die zwei- bis vierwöchige Entgiftung soll in einem speziell dafür ausgestattetem Haus stattfinden. Der Tagesablauf und die Selbstverwaltung sollen nach den oben beschriebenen Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft gestaltet werden. Entsprechend gelten die ausgeführten Hausregeln. Die Kooperation mit einer Großklinik wird angestrebt, um die intensiv- medizinische Betreuung sicherzustellen. Nur in begründeten Ausnahmefällen soll der leitende Arzt Medikamente verordnen. Das Leben und Entziehen in einer Gruppe von ca. 20 - 25 "Leidensgenossen" soll durch intensives Miteinander und gruppendynamische Prozesse zur wechselseitiger Unterstützung und Ermutigung in der kritischen Phase der Entgiftung führen.

Ziel dieses kalten Entzuges "mit psychotherapeutischem Fingerspitzengefühl" (Osterhues, 1989, S. 4) ist es, die massive Angst des Abhängigen vor der Entgiftung durch ein niederschwelliges Angebot zu mindern und eine bessere Ausgangsmotivation des Patienten durch die optimale Nutzung des Leidensdrucks für die Entwöhnungsphase sicherzustellen. Darüber hinaus sollen Selbstheilungskräfte stimuliert und die Abbruchzahlen zu Beginn der Entwöhnungsphase gesenkt werden, indem der Betreffende bereits Erfahrungen im Umgang mit therapeutischen Gemeinschaften hat und so weiß, worauf er sich einläßt. Letztlich ist sicherzustellen, daß Patienten, die aus der Entzugseinrichtung entlassen werden, auch tatsächlich vollständig entzogen sind.

Dr. Osterhues geht in seinem "Nestkonzept" von folgenden grundsätzlichen, kritischen Überlegungen aus:

Neue Entgiftungsplätze müssen geschaffen werden, da das momentane Angebot unzureichend ist, lange Wartezeiten üblich sind und sich die Nachfrage bei optimaler Motivation der Abhängigen wesentlich erhöhen ließe. Suchthilfe muß angebots- und nicht nachfrageorientiert sein.

Die Besonderheiten der Suchterkrankung müssen in der Entgiftungsphase optimal bedacht werden. Psychiatrische Kliniken und Allgemeinkrankenhäuser haben nicht das entsprechend qualifizierte Personal und können zwischen "krank" und "suchtkrank" nur unzureichend unterscheiden.

Krankenhäuser sind für die meisten Menschen angstbesetzte Gebiete, bei Süchtigen verschmilzt diese Angst mit der vor einem suchtfreien Leben. Die Schwellenangst wird übermächtig, die Anonymität des Krankenhauses führt zu weiterem Identitätsverlust des Abhängigen.

Aus ihrem Selbstverständnis heraus betrachten sich Abhängige nicht als "psychiatrische Fälle", sie haben Angst vor den unangenehmen Nebenwirkungen der Psychopharmaka, deren Einnahme sie oftmals nicht verweigern können, und fühlen sich isoliert, mißverstanden und inhaftiert.

Oftmals versorgen sich Abhängige bereits während der Entgiftung mit Drogen oder Alkohol.

Die Verabreichung von Medikamenten zur Linderung der Entzugssymptome und die "freundliche Anteilnahme" des Pflegepersonals können zu positiven Verstärkern eines Lernprozesses werden. Entzugsbeschwerden verschaffen "Stoff", und das sind beim Abhängigen auch Medikamente und Zuwendung, subjektiver Krankheitsgewinn entsteht. Versorgendes Verhalten der Mitarbeiter kann Suchttendenzen verstärken, indem der Patient lernt, durch bestimmte Entzugsbeschwerden Medikamente zu erzwingen, mit deren Hilfe er seine reale Situation nicht mehr wahrnehmen muß.

Der psychotherapeutisch begleitete Entzug außerhalb einer etablierten Einrichtung stellt ein niederschwelliges Angebot für den Abhängigen dar. "Der Süchtige wird nur in "homöopathischer Dosierung" mit Psychotherapie "behelligt". Der womöglich "kalte" Entzug befriedigt die elitären Bedürfnisse des Süchtigen" (Osterhues, 1989, S. 17).

Weiter oben habe ich bereits auf die gestörte komplexe Wechselbeziehung zwischen Körper, Seele und Umwelt beim Abhängigen hingewiesen. Dr. Osterhues versucht diese grundlegende Überlegung in das Behandlungskonzept für Abhängige in der Entgiftungsphase einzubeziehen.

Beim Absetzen des Suchtmittels kommt es beim Abhängigen zu einem erhöhten Noradrenalinausstoß. Dieser verursacht Irritationen im sympathischen und parasympathischen Nervensystem, wodurch es zu den bekannten Entzugserscheinungen kommt (vgl. Osterhues, 1989, S. 19). Diese physischen Beschwerden beeinflussen neben dem sozialen Umfeld und der eigenen Persönlichkeit die psychische Befindlichkeit des Abhängigen während der Entgiftung. Angst steht im Mittelpunkt der seelischen Reaktionen, sie erhöht aber gleichzeitig die Noradrenalinausscheidung (vgl. Osterhues, 1989, S. 21). Die Schmerzerwartung des Abhängigen vor seiner Entgiftung kann die Schmerzwahrnehmung während seiner Entgiftung beeinflussen. Die psychischen und physischen Entzugsbeschwerden werden von dem jeweiligen Patienten subjektiv bewertet. "Schmerzen werden umso intensiver erlebt ..., je mehr Aufmerksamkeit man ihnen zuwendet" (Osterhues, 1989, S. 22).

Deshalb können in einem psychotherapeutisch begleitetem Entzug absichtlich hervorgerufene, andere Reize, wie die Wärme und Geborgenheit der Gruppe, mit dem Reiz der Schmerzen in Konkurrenz treten, so daß die Schmerzen die Schwelle des Bewußtseins nicht überschreiten. Zudem kann das subjektive Erleben von Schmerzen durch bestimmte Entspannungstechniken im "Nest" verringert werden.

Die Atmosphäre des Hauses, in dem der "Nest"-Entzug durchgeführt werden soll, muß durch seine räumlich-baulichen und zwischenmenschlichen Reize den Abhängigen zur Aktivität ermuntern. Er soll nicht die passiv, erduldende Patientenrolle einnehmen, sondern aktiv die anstehenden Probleme und Beschwerden bewältigen.

In der Gemeinschaft fällt es leichter, völlig auf Medikamente zu verzichten, indem das Gefühl des Vertrauens, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe an deren Stelle gesetzt werden. Dadurch kann der Abhängige eigene Ängste und Unsicherheiten vermindern und seine Schmerztoleranz in der entspannenden Atmosphäre der therapeutischen Gemeinschaft steigern.

Das Ausmaß der Entzugsbeschwerden und deren subjektiven Bewertung wird durch die Gruppe kontrolliert, indem sich Normen und Werte herausbilden, mit deren Hilfe die Gruppe ihr eigenes Selbstvertrauen erhöhen und Symptome herunterspielen kann. Das Gruppen-Ich wird, wie weiter oben beschrieben, zum Hilfs-Ich des Einzelnen, eine dieser Ich-Funktionen kann das bewußte Aushalten von Schmerzen sein, mit deren Hilfe Entzugsbeschwerden nicht überbewertet werden. "Die Schmerzreaktionen der anderen Patienten werden zu Modellen des eigenen Verhaltens" (Osterhues, 1989, S. 26). Dadurch kommt es zur Verstärkung der Motivation und des Entschlusses zu einer Entwöhnungsbehandlung.

In diesem Konzept werden die Angst und die Furcht des Abhängigen vor einem drogenfreien Leben berücksichtigt, die Schwelle zur aktiven Behandlung der Sucht wird herabgesetzt und damit wird sichergestellt, daß die Angst vor der Entgiftung nicht größer als der anfangs empfundene Leidensdruck des Patienten wird.

Das vorgestellte Konzept der Entzugsklinik "Nest" wurde auf die Bedürfnisse von Opiatabhängigen ausgerichtet. Sicher gibt es graduelle Unterschiede in der Behandlung von Heroin- und Alkohol- oder Medikamentenabhängigen.

Vor allem die Altersstruktur ist unterschiedlich, Opiatabhängige sind in der Regel wesentlich jünger als Alkohol- und Medikamentenabhängige. Deshalb und auch aufgrund der meist noch halbwegs intakten sozialen Beziehungen von Alkohol- und Medikamentenabhängigen liegt es nahe, wenigstens die Entgiftungsbehandlung gemeindenah durchzuführen. Durch die räumliche Entfernung zur ersten stationären Maßnahme in der Therapiekette könnte die ansonsten als niederschwellig anzusehende Entgiftung nach dem "Nest"-Konzept als höherschwellig erlebt werden.

Gerade Alkoholabhängige werden häufig unvorbereitet in eine Entgiftungsstation eingewiesen. Auch das wäre nach dem vorgestellten Konzept nicht möglich, weshalb die akute Notversorgung wiederum in den ortsansässigen Kliniken durchgeführt werden müßte.

Zudem ist die medizinische Betreuung von Alkoholikern oftmals intensiver und risikoreicher als die von Heroinabhängigen. In diesem Zusammenhang sei auf die lebensbedrohenden Deliren und auf andere schwere Entzugserscheinungen bei Alkoholikern hingewiesen.

Gelänge es jedoch, "Nest"-Einrichtungen dezentral und gemeindenah zu organisieren und zu errichten und könnten diese Einrichtungen auch kurzfristig intensivmedizinisch zu betreuende Patienten aufnehmen, hielte ich diese Konzeption für eine bemerkenswerte Alternative zu den bestehenden Entgiftungsmöglichkeiten.

8 Vorstellung meiner Praktikumsstelle: Daytop Deisenhofen

8.1 Entstehungsgeschichte von Daytop

Allgemeine Ratlosigkeit herrschte 1969 hinsichtlich der Behandlung und Therapie von Abhängigkeit, als die Drogenwelle in Deutschland und anderen europäischen Ländern hochflutete. Zu dieser Zeit lernte Hilrarion Petzold in den USA das Daytop Therapiemodell kennen. Seit 1966 hatte Petzold zusammen mit Osterhues in Paris Gruppen für Alkoholiker und später für Drogenabhängige geleitet. 1969 gründete Petzold in Paris die erste therapeutische Wohngruppe in Europa, die nach den Daytop Prinzipien geleitet wurde. Die gleichen Grundlage verwendete Osterhues ab 1970 in München, wo er die "Stiftung für internationale Nothilfe" gründete und die ersten ambulanten Therapiegruppen für Abhängige anbot. Zwei Jahre später entstand das erste Daytop Therapiezentrum in Fridolfing. Kurz darauf wurden Häuser in Fürstenfeldbruck und Grünwald eröffnet. Das Daytoppogramm in Deutschland entwickelte schnell eine eigene Richtung und wurde so nicht zur Kopie des amerikanischen Vorbilds. Ein wesentlicher Grund mag hier das Fehlen von Ex-Usern, aber auch administrative Schwierigkeiten gewesen sein. Hauptunterschied zwischen den Daytopeinrichtungen in den USA und denen in Deutschland ist die Mitarbeit von sog. Profis, also von ausgebildeten Therapeuten in den deutschen Häusern. Dieses Fachpersonal arbeitet zwar nicht ganz nach der klassischen Schule der Psychotherapie, bringt aber Techniken und Methoden ein, und stellt diese der Gruppe zur Verfügung. Nach und nach wurden immer mehr Häuser aufgebaut, der Telefonnotruf wurde errichtet, ein eigener Verlag wurde geschaffen und Anfang der 80er Jahre wurden die Therapieorganisationen Phönix und Fähre übernommen.

8.2 Dachorganisation und Trägerschaft

Daytop Deisenhofen, früher Grünwald, ist ein Therapiezentrum der Daytop Gesellschaft für soziale Planung und Alternativen. Die Daytop Gesellschaft ist beim Amtsgericht Düsseldorf eingetragen und vom Finazamt als Gemeinnützig anerkannt; sie untersteht der freiwilligen Kontrolle einer vom Roten Kreuz benannten Treuhandgesellschaft. Die Daytop Gesellschaft ist Mitglied beim Bayerischen Roten Kreuz, der ICCA World Health Organisation in Genf, der World Federation of Therapeutic Communities in New York und der European Fedaration of Therapeutic Communities in Brüssel. Heute unterhält die Daytop Gesellschaft, die nach wie vor durch Dr. Osterhues geleitet wird, im Bundesgebiet sechs Häuser für Drogenabhängige, fünf für Alkohol- und Medikamentenabhängige und ein Stabilisierungshaus in München. Die Idee der therapeutischen Gemeinschaft wird von allen Häusern in unterschiedlicher Form verwirklicht. So gelten einige eher als verhaltenstherapeutisch, andere, wie Daytop Deisenhofen, als tiefenpsychologisch orientiert.

8.3 Räumliche und Sachliche Ausstattung

Das Therapiezentrum Daytop Deisenhofen liegt etwa 20 Km außerhalb von München am Rand des Taufkirchner Forstes. Auf dem Grundstück Linienstraße 53 stehen zwei Häuser. In dem hinteren befinden sich lediglich Schlafräume für Patienten der letzten Therapiephase. Im Haupthaus findet man zwölf zwei bis drei Bettzimmer, die Mitarbeiterräume, das Büro, welches durch zwei Zivildienstleistenden betreut wird, die Aufenthaltsräume für die Gruppenmitglieder, die Küche, den Waschraum, eine Metall- und Holzwerkstatt sowie den Therapieraum. Die Daytop Fachkliniken finanzieren sich durch Tagessätze (ca.DM 100.--), die von den Kostenträgern bezahlt werden. Mit kleineren und größeren Spenden lassen sich viele Projekte finanzieren.

8.4 Die Mitarbeiter

Leiter des Hauses ist Dr. Dwinger, ausgebildeter Psychiater, Neurologe und Arzt für Psychotherapie und Psychoanalyse. Das Team setzt sich aus zwei Sozialpädagogen, einem Arbeits- und Beschäftigungstherapeuten, einem Suchttherapeuten und zwei Zivildienstleistenden zusammen. Jeder Mitarbeiter bringt sein spezifisches Fachwissen, seine Fähigkeiten und Wahrnehmungssensibilitäten in den therapeutischen Prozeß mit ein. Die Gruppentherapie wird durch die jeweiligen Therapeuten die Dienst haben geleitet. Auch Partner- oder Elterngespräche sind nicht spezielle Aufgabenbereiche eines Einzelnen. Die organisatorische Arbeit ist paritätisch im Team aufgeteilt. Je zwei Mitarbeiter leiteten die Orientierungs- und Kontaktphasengruppe.

8.5 Die Patienten

Fast jede Biografie von Patienten in Daytop Deisenhofen weißt eine lange, meißt jahrzehntelange Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit auf. Das Fachkrankenhaus steht aber auch Personen offen, die an Politoxikomanie, Margersucht, Boulemie, Freßsucht, Spielsuch oder Haschischabhängigkeit leiden. Die meisten der 30 Patienten sind zwischen 18 und 40 Jahren alt. Mittelwert dürfte hier das 25. Lebensjahr sein. Das Verhältnis zwischen Männer und Frauen ist in der Regel 1:3 bis 1:4. Schichten- oder Milieuspezifikationen sind unauffällig, Berufsabschlüsse hingegen sind eher selten.

8.6 Die Selbstverwaltung

Die Patienten der Fachklinik Daytop Deisenhofen versorgen sich selbst. Die Küche, die Wäscherei, die Hühner- Puten- und Entenzucht, die Schreinerei, die Metallwerkstatt, der Garten und sämtliche anderen Aufgaben die in einer großen Wohngemeinschaft anfallen werden von den Patienten selbstständig besorgt. Die notwendigen Anschaffungen werden von den Patienten beschlossen und dann, in Absprache mit den Therapeuten, eingekauft. Jeden Monat wird von den 30 Patienten ein Leitergremium gewählt, welches die organisatorische Verantwortung für den Tagesablauf übernimmt. Die Mitarbeiter stehen der Selbstverwaltung lediglich als Hilfe zur Verfügung, die Verantwortung bleibt aber immer bei dem jeweiligen Patienten. So lernt der Abhängige sich langsam immer schwirigeren Aufgaben im Haus zu stellen, und zunehmend Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Vier Kardinalregeln sind für alle Mitglieder der Gruppe und des Teams verbindlich: - Verbot von Alkohol, Drogen und nichtverordneten Medikamenten, - Verbot von körperlicher Gewalt und deren Androhung, - Verbot von sexuellen Kontakten und - Verbot des Verlassens des Grundstücks ohne Absprache. Zudem gibt es zahlreiche Regeln, die von ehemaligen Patienten aufgestellt wurden. Regelverstöße ziehen Konsequenzen nach sich. Diese von der Gruppe zu bestimmenden Konsequenzen sind keine Strafen stellen logische Folgerungen aus dem Verhalten des Einzelnen dar.

8.7 Der Hausalltag

Der Tag beginnt für die Meisten um halb Sieben mit Frühsport. Anschließend wird gemeinsam gefrühstückt und das Haus sauber gemacht. Vormittags findet drei mal in der Woche Gruppentherapie statt. Die restliche Zeit wird mit Arbeits- und Beschäftigungstherapie verbracht. Nach dem Mittagessen und der Mittagspause können die Patienten Sport treiben oder sich creativ beschäftigen. In der Teepause gegen halb vier findet die Gruppe wieder zusammen. Anschließend wird noch zwei Stunden gearbeitet, bevor es um halb sieben Abendbrot gibt. Danach versammelt sich die Gruppe zum Abendplenum, wo organisatorisches und persönliches besprochen wird. Der Abend klingt mit Freizeit aus. Die jeweiligen Aktivitäten überlegt sich die Gruppe im Voraus selbst. Um 23.00 Uhr ist Bettruhe, gegen Mitternacht sollte das Licht auf allen Zimmern verloschen sein.

8.8 Die Arbeits- und Beschäftigungstherpie

Alle im Tagesablauf anfallenden Arbeiten werden von den Patienten erledigt. Zur Arbeitstherapie gehört ebenso das Kochen und Putzen wie das Arbeiten an konkreten Projekten. Durch die am Haus und an den Bedürfnissen der Bewohner orientierte Arbeitstherapie gewinnt der Patient einen völlig neuen Bezug zu seinen eigenen Fähigkeiten. Er kann sich als schöpferisch und kreativ erleben, den Sinn der Arbeit erkennen und so die Entfremdung von eigenen Bedürfnissen und Arbeit aufheben.

Die Beschäftigungstherapie ist ein Teil des gemeinsamen Miteinanders. Jeder Patient kann sich im Kontakt mit unterschiedlichen Materialien erleben und so zu eigenen individuellen Ausdrucksformen für seine Gedanken und Gefühle kommen. Konkret stehen dem Patienten eine Töpferwerstatt, viele Materialien zum malen und basteln sowie eine Holz- und Metallwerkstatt zur Verfügung. Wer möchte kann sich von einer Sozialpädagogin anleiten lassen, andere nehmen die Möglichkeit zum Besuch von Töpferkursen einer externen Künstlerin an.

8.9 Die Psychotherapie

Die therapeutische Gemeinschaft, die ich weiter oben ausführlich dargestellt habe, ist Grundlage des Zusammenlebens im Haus. Im Familiengedanken dieses Fachkrankenhauses spiegelt sich die grundlegende Annahme, daß Abhängigkeit in der Familie entsteht, wieder. Alle Patienten haben eine gemeinsame Ausgangsposition. Sie haben Jahre oder Jahrzehntelang ihre Sucht gelebt und druchlitten und wollen nun einen neuen Weg einschlagen. Die Therapie findet in einem Rahmen, der durch Offenheit, Ehrlichkeit und Klarheit gekennzeichnet ist, statt. Jeder Patient hat die Möglichkeit in Gruppen- oder Einzelgesprächen von sich zu erzählen und sich so zum Thema zu machen. Auch Konflikte, die im Tagesverlauf auftre ten, sind Ausgangspunklte für die weitere Therapie. Die senisbilisierte Wahrnehmung der älteren Gruppenmitglieder und der Therapeuten erlaubt es, abhängiges Verhalten und abhängige Angebote früh zu erkennen und anzusprechen. Jeder geklärte Konflikt ist ein Beweis für die Möglichkeit konstruktiven Zusammenlebens. Die Patienten sollten sich im Laufe der Zeit klare Jas und klare Neins gestatten. Erst wenn der Abhängige gelernt hat, daß es ihm durch deutliche Signale nach außen besser geht, als wenn er sich ständig verstellt, können dauerhafte Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden. Hierzu stehen vor allem Methoden der Psychoanalyse, der Gestalttherapie und des Psychodrama bereit. Übereinstimmende Lebensereignisse oder Probleme geben den Betroffenen Mut, weiter von sich zu erzählen und vergangene Situationen oder Konflikte aufzuarbeiten. "Wichtig ist uns, daß jeder neugierig wird, sich ausprobiert und wieder Freude an sich und am Leben bekommt" (Hausbroschüre Daytop Deisenhofen, S. 5).

9 Die Orientierungsphase in der Entwöhnungsbehandlung

Ein akuter Leidensdruck führt den Abhängigen zu der Beratungsstelle, wo die Kontaktphase beginnt. Initialmotivation des Betroffenen ist es, Hilfe bei der Bewältigung seines Leidensdrucks zu bekommen. Die Entscheidung zu einer Langzeittherapie ist meist auf eine Vermeidungsmotivation gegen aversive Reize zurückzuführen, obwohl der Süchtige zu diesem Zeitpunkt bereits erkannt hat, daß der Leidensdruck die Folge der selbstverschuldeten Sucht ist.

In der Kontaktphase setzt sich der Abhängige, unterstützt durch die Beratungsstelle, mit der Therapieeinrichtung, z.B. Daytop Deisenhofen, in Verbindung und bewirbt sich um einen Therapieplatz. Leider kommt es häufig vor, daß mehrwöchige Wartezeiten nicht zu vermeiden sind. Die Anfangsmotivation muß über diese "Durststrecke" hinwegreichen, ansonsten kommt es bereits hier zu einem Abbruch. Einige Patienten verbringen die ganze Wartezeit in der Entgiftungsklinik, um in der Zwischenzeit nicht wieder rückfällig zu werden.

Während meines Praktikums unterhielt ich die Bewerberkontakte von Daytop Deisenhofen. Mir war es wichtig, regelmäßig mit den Bewerbern zu korrespondieren oder zu telefonieren. Durch diesen Kontakt gelang es mir, bereits vor der Aufnahme eine vertrauensvolle Beziehung zu den Patienten herzustellen.

Voraussetzungen für die Aufnahme in diese Fachklinik sind die Kostenzusage sowie ein ärztliches Attest über die Freiheit von ansteckenden Krankheiten (HIV ausgenommen), die erfolgte Zahnsanierung und die abgeschlossene körperliche Entgiftung.

9.1 Die ersten Tage und Wochen

Wenn nun der neue Patient ankommt, so ist ihm die Situation unbekannt und er empfindet sie meist als beängstigend und verunsichernd. Sein erstes Bedürfnis wird sein, sich zu orientieren und Schutz zu suchen. Daher bekommt jeder neue Patient sofort eine feste Bezugsperson. Dieser Mitpatient zeigt ihm das Haus, erklärt ihm die Regeln und stellt ihn den anderen Patienten vor. Der sog. "Vater" oder die sog. "Mutter" durchsucht die persönlichen Sachen des Neuankömmlings und schließt verbotene Gegenstände, wie z.B. Messer, alkoholhaltige Kosmetika und Medikamente ein. Während der gesamten Orientierungsphase, die etwa sechs bis acht Wochen dauert, bleibt dem neuen Patienten diese Bezugsperson als fester Ansprechpartner erhalten.

Bei der Zimmerwahl achten die Mitarbeiter darauf, daß der neue Patient in ein Zimmer mit etwa Gleichaltrigen kommt.

Am Abend des ersten Tages wird er vorläufig in die Gruppe aufgenommen. Der "Vater" oder die "Mutter" stellt ihn den Gruppenmitgliedern vor, er geht zu jedem einzelnen hin; jeder sagt ihm seinen Namen und wünscht ihm für seine Therapie viel Glück und Erfolg. Mit diesem Ritual beginnt die Orientierungsphase, sie endet mit der endgültigen Gruppenaufnahme, nachdem sich der neue Patient einige Male aktiv und emotional in die Gruppe eingebracht hat.

Die Orientierungsphase soll ein Schonraum zur Eingewöhnung in den therapeutischen Alltag sein. Süchtige erwarten Hilfe bei der Orientierung, die sie sich selbst nicht geben können. Deshalb muß das Therapiekonzept klar aufgebaut sein und die Therapeuten und Mitpatienten müssen klare Leitbilder vorgeben, an denen sich der Patient orientieren und nach denen er sich richten kann. Thielicke führt hierzu aus, daß die Anfangszeit nicht auf therapeutischen Kunstregeln, sondern auf eine akzeptierende Grundhaltung gegenüber dem Menschen basieren sollte (vgl. Thielicke, 1974). Das Gefühl akzeptiert zu sein, ohne Vorbehalte erst einmal angenommen zu werden ist die Basis für jede Weiterentwicklung. In dieser Zeit wird der Patient nicht massiv konfrontiert, weil das zur Folge hätte, daß er sich zu Beginn seiner Behandlung abgelehnt und nicht verstanden fühlen würde.

Gerade in den ersten Wochen ist es wichtig, auf das Bedürfnis nach Zuneigung, Vertrauen und Sicherheit einzugehen. Damit wird ein positiver vertrauensvoller Kontakt zwischen Patient und Mitpatienten sowie zwischen Patienten und Therapeuten hergestellt. Erst wenn tragfähige Beziehungen entstanden sind, kann der Abhängige Belastungen aushalten, vor denen er früher mit Hilfe des Suchtmittels geflüchtet ist. Konfrontationen würde der Abhängige anfangs als aggressive Ablehnung empfinden, die ihn wahrscheinlich zum Abbruch seiner Therapie verleiten würde. Zum Schutz gegen Konfrontationen, Verletzungen oder Liebesentzug hat jeder Mensch "Verspannungen, Blockaden und Verdrängungsmechanismen entwickelt. Diese haben ihren Sinn und ihre Notwendigkeit, um die Identität aufrechtzuerhalten. Wird sie aufgerissen ohne tragfähige therapeutische Beziehungen oder ohne daß bereits neue gesunde Strukturen entwickelt worden sind, so kann die Identität zusammenbrechen. Eine Psychose oder Depression kann die Folge sein" (Petzold, 1980, S.165). Erst wenn dies erreicht ist, kann eine sinnvolle und konstruktive Auseinandersetzung mit den persönlichen Problemen und Strukturen des Abhängigen beginnen.

Praktisch wirkt sich der beschriebene Schonraum auch auf die sog. Konsequenzen aus. Während der ersten Wochen werden Regelverstöße nur verwarnt, aber nicht geahndet.

Generell kann ich auf Grund meiner Erfahrungen im Umgang mit Süchtigen sagen, daß die Therapiemotivation absinkt, sobald in der Anfangsphase das Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit nicht erfüllt wird. Die Therapeuten müssen dem Abhängigen das Gefühl geben, ihn in seiner Ambivalenz hinsichtlich der Therapie anzunehmen. Diese Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach dem Suchtmittel und dem Wunsch nach einer tiefgreifenden Veränderung ist das Grundproblem des Süchtigen überhaupt. Ich halte es für einen gravierenden Fehler, ihn bereits in der Orientierungsphase auf eine Seite festzulegen. Dies würde bei dem Betreffenden extreme Angst auslösen, da er noch keine sicheren Alternativen zu seinem früherem Verhalten erwerben konnte.

Wichtig ist vielmehr, das momentane Verlangen nach Stoff nicht totzuschweigen, sondern es gerade in der Orientierungsgruppe anzusprechen und Strategien für den Umgang mit dem Suchtbedürfnis zu entwickeln.

Schon wenige Tage, in denen neue Inhalte wie Wärme, Geborgenheit und Nähe erlebt wurden, können dem Abhängigen helfen, eine lohnende Alternative zu seinem bisherigem Leben zu erkennen und ihm Mut machen, sich weiter clean auszuprobieren. Dennoch darf, gerade während der ersten Therapiewochen, der motivationsmindernde Wunsch nach Alkohol und Drogen nicht unterschätzt werden.

Viele Abbrüche, die ich bis heute erlebt habe, ließen sich direkt darauf zurückführen. Auslöser können hier vor allem Träume, Gespräche über die Drogenzeit, Filme, Literatur, Musik und der Kontakt mit Flaschen, Spritzen oder Medikamenten sein. Deissler hält solche Situationen für den häufigsten Grund von Therapieabbrüchen und Rückfällen (vgl. Deissler, 1977).

Im Herbst 1989 führte ich folgende statistische Erhebung durch: Zwischen Januar 1986 und Dezember 1988 wurden 275 Patienten in Daytop Deisenhofen neu aufgenommen. Alle Patienten waren im Herbst 1989 entlassen oder hatten in der Zwischenzeit die Therapie abgebrochen (134 Patienten). 82 Patienten (29% d. Aufgenommenen) brachen ihre Therapie im ersten Therapiemonat ab. 19 (7%) im zweiten, 14 (5%) im dritten, 10 (4%) im vierten und 12 (4,5%) im fünften Therapiemonat folgten. Umgerechnet bedeutet dies, daß 61% der Abbrüche im ersten und 14% der Abbrüche im zweiten Therapiemonat liegen. Demnach fallen 3/4 aller Abbrüche in die Zeit der Orientierungsphase.

9.2 Die Orientierungsgruppe

Aufgrund der Erkenntnis, daß 3/4 aller Abbrüche in den ersten zwei Therapiemonaten liegen, gründeten eine Kollegin und ich die Orientierungsgruppe mit dem Ziel, die Abbruchzahlen deutlich zu senken.

Dieses zusätzliche therapeutische Angebot richtet sich verbindlich an alle Patienten, die noch nicht endgültig in die Gruppe aufgenommen wurden. Daneben nehmen die Patienten aber regelmäßig an den anderen Gruppentherapiesitzungen teil.

Anfänglich gab es einige Schwierigkeiten mit der Namensgebung. An alte Daytop-Traditionen anknüpfend, wollten wir die neue Gruppe "Babygruppe" nennen. Einige ältere Patienten wollten sich allerdings nicht als "Baby" im Haus bezeichnen lassen. So einigten wir uns auf den Namen "Orientierungsgruppe", der sicher auch am besten die zentrale Zielsetzung trifft.

Wir wollten eine Orientierung in der Psychotherapie und Hilfe bei den ersten Erfahrungen auf dem unsicheren Weg zu sich selbst ermöglichen. Bei vielen Patienten löst die Emotionalität und die Offenheit in den Therapiegruppen starke Angst aus. "Das kann ich nie" oder "Warum müssen Konflikte so laut ausgetragen werden" sind häufig Fragen oder Befürchtungen von Therapieeinsteigern. Ganz behutsam versuchen wir erste Erfahrungen mit den Therapiemethoden zu ermöglichen. Dabei üben wir keinen Druck oder Zwang aus, sondern bieten lediglich einen gewissen Rahmen, in dem es möglich ist, bisher Ungewohntes auszuprobieren.

Zaghaft fangen die meisten Patienten nach einigen der wöchentlich stattfindenden Gruppensitzungen an, Konflikte anzusprechen und persönliche Erfahrungen, Gefühle und Probleme einzubringen. Dabei gehen wir erst einmal auf die angebotene kognitive Gesprächsebene ein, versuchen dann aber auch die emotionale Beteiligung zu wecken.

Häufig entstehen hier Gespräche über die Notwendigkeit, Gefühle zu benennen und auszudrücken. Patienten, die schon etwas länger im Haus sind, können eigene Erfahrungen ansprechen, und den "Neuen" Mut machen, sich aktiver einzubringen.

Wir versuchen immer wieder die Abwehrmechanismen gegenüber jeglichen Gefühlen aufzudecken, um den Patienten damit zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß Abhängigkeit bedeutet, bestimmte Gefühle nicht leben zu lassen.

Die beschützende Kleingruppe erlaubt es den Patienten, aktuelle Probleme mit "älteren" Mitpatienten, die schon eine längere Therapieerfahrung haben, anzusprechen und gibt ihnen die Sicherheit, diese Konflikte dann in der Großgruppe zu klären und zu lösen.

Der zweite wesentliche Inhalt der Orientierungsgruppe ist die Auseinandersetzung mit den Hausregeln. Die Patienten können ihren Unmut oder ihr Unverständnis über die vielen Regeln, Gebote und Verbote im Haus äußern. Durch die Auseinandersetzung gelingt es meist, daß die Hausregeln nicht nur blind angenommen, sondern tatsächlich verstanden und akzeptiert werden.

Wie ich weiter oben schon ausgeführt habe, stammen die meisten der Regeln von ehemaligen Patienten. Die ersten Generationen gaben sich einen festen Rahmen, damit sie in der Gemeinschaft leben und ihre Probleme aufarbeiten konnten. In den vielen Jahren, die Daytop Deisenhofen nun schon existiert, wurden viele Regeln verändert, abgeschafft oder neue hinzugefügt. Dies geschah jedoch fast immer auf Initiative von Gruppenmitgliedern, fast nie von Seiten der Therapeuten.

Am Ende der Orientierungsphase steht dann auch häufig die Erkenntnis, daß es ein festes Reglement geben muß, wenn 30 Personen in einem Haus zusammenleben und gesund werden wollen.

Die Orientierungsgruppe soll aber auch helfen, die eigene Suchtkapitulation sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen. Viele der neuen Patienten wissen zwar von dem Zusammenhang zwischen ihren akuten Problemen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Strafverfolgung oder Schulden, und der eigenen Sucht als Ursache für den Leidensdruck. Sie setzen diese Erkenntnis allerdings nicht vollständig um. Sicher haben die meisten zu dieser Zeit bereits ein gewisses Problemverständnis, gestehen sich aber immer noch nicht ein, mit ihrer abhängigen Problemvermeidungsstrategie im Leben gescheitert zu sein.

Wir halten daher die Patienten immer wieder dazu an, von ihrer Suchtvergangenheit zu erzählen, Ursachen und Gründe für das Scheitern zu benennen und sich so vor allem auf einer gefühlsmäßigen Ebene mit ihrer persönlichen Biographie auseinanderzusetzen. Erst wenn sie sich ihre Kapitulation vor der Sucht wirklich, das heißt rational wie auch emotional, eingestanden haben, können sie beginnen, neue Strategien im Umgang mit Problemen, Konflikten, Beziehungen und mit sich selbst zu entwickeln und diese im täglichen Leben der beschützenden Gemeinschaft zu erproben.

Dazu ist es aber erst einmal wichtig, Trauerarbeit über das Vergangene zu leisten (vgl. Miller, 1980) und die damit entstehende motivationsverstärkende Betroffenheit auszuhalten, einzubringen und mit ihr weiter in der Großgruppe und in Einzelgesprächen zu arbeiten.

Letztlich bietet die Orientierungsgruppe die Möglichkeit, sich über einen kleineren intimen Kreis in die Großfamilie einzufügen und deren Normen und Werte anzunehmen.

9.3 Ziele und Inhalte der Orientierungsphase

Einige zentrale Ziele der Orientierungsphase habe ich schon im Kapitel über die Orientierungsgruppe beschrieben. Das Kennenlernen der therapeutischen Methoden, die Auseinandersetzung mit Gefühlen und den Hausregeln, das Eingewöhnen in die Gemeinschaft und die Suchtkapitulation sind spezielle Inhalte dieser Gruppe.

Darüber hinaus sind die ersten Wochen durch eine Reihe weiterer Ziele und Inhalte gekennzeichnet, die ich aber nicht nur auf die Orientierungsgruppe, sondern auf die ersten zwei Therapiemonate generell beziehen möchte.

Jeder Patient hat seine bestimmten Motive, warum er eine Langzeittherapie machen möchte: "Suche nach Geborgenheit, Verstehen und Liebe, Sich-nicht-abfinden-wollen, Flucht vor den Schwierigkeiten draußen, Therapie machen, um einen Partner zu halten, Leiden unter dem Under-dog-Sein, Suche nach Sinn. Vielfach kann man hinter den Äußerungen die tieferen Motive ahnen und auch die großen Hoffnungen" (Vormann, 1980, S.156).

In der Gruppentherapie, den Einzelgesprächen und in der Orientierungsgruppe ist das Abklären der Ausgangsmotivation eines neuen Patienten immer wieder Thema. Dabei ist es wichtig, den Patienten zu ermutigen seine wirklichen Motive auszusprechen. Auch wenn diese vielleicht "trivial" sind und den therapeutischen Anforderungen "nicht genügen", so sind sie dennoch die momentane Wahrheit des Betroffenen. Wenn wir Offenheit, Ehrlichkeit und Klarheit im Kontakt mit dem Patienten erreichen wollen, müssen wir erst einmal die reale Situation als Ausgangsbasis akzeptieren. Beginnt der neue Patient seine "Therapielaufbahn" mit neuen Lügen über seine Ausgangsmotivation wird es kaum gelingen tatsächlich etwas an der Abhängigkeitsstruktur zu ändern.

Viele Patienten erleben im Therapiecenter das erste Mal in ihrem Leben eine Situation, in der sie von Anfang an zu sich, ihren Wünschen und Hoffnungen, aber auch zu ihren Schwächen und Ängsten stehen können.

Unter Orientierung verstehe ich auch, daß ein neuer Patient Zeit und Raum bekommt, sich mit seinen Motiven und Zielen auseinanderzusetzen. "Will ich wirklich etwas an meiner Sucht verändern und damit einen ungewissen und anstrengenden Weg durch die Therapie in Kauf nehmen, oder will ich lieber Knast statt Therapie, was sicherlich einfacher für mich wäre". Diese Überlegung äußerte ein Teilnehmer während einer Orientierungsgruppensitzung im Sommer 1989. Letztlich entschied er sich für die Therapie und damit für eine grundlegende Veränderung seiner Persönlichkeitsstruktur.

Diese Entscheidung konnte allerdings erst dadurch zustandekommen, daß sich der Patient selbst hinterfragte und offen über seine Vermeidungsstragegien (Therapie statt Strafe) redete, dennoch aber als Gruppenmitglied akzeptiert und ernstgenommen wurde.

Viele der Patienten durchlaufen bereits ihre zweite oder dritte Therapie. Die mit früheren Therapien verbundenen Erfahrungen, Enttäuschungen und Erwartungen sollten ebenfalls in Einzel- oder Gruppengesprächen eingebracht werden. Jeder dieser Patienten bringt spezifische Therapieerfahrungen mit, die sein Verhalten, sein Vertrauen, seine Offenheit und Ehrlichkeit sowie seine Erwartungen an Mitpatienten und Therapeuten entscheidend beeinflussen.

Hat ein Patient beispielsweise in einer früheren Therapie gelernt, sich den Anforderungen und Wünschen der Therapeuten bedingungslos anzupassen, so wird er dies auch in einer weiteren Therapie versuchen. In der Orientierungsphase hat er die Möglichkeit, unterstützt durch Therapeuten und Mitpatienten, zu erkennen, daß solch ein Verhalten letztlich nur eine weitere Form der Abhängigkeit ist und nichts mit einer tatsächlichen Veränderung zu tun hat. Erst wenn die persönliche Therapiemotivation und die einzelnen Therapieerfahrungen offen ausgesprochen, hinterfragt und gemeinsam diskutiert wurden kann der neue Patient beginnen, Problemfelder herauszuarbeiten und daraus Therapieziele zu entwickeln.

Jedes der oben beschriebenen Ausgangsmotive hat eine spezielle Ursache. Mit Hilfe der Innen- und Außengruppe wird versucht, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Problemen herzustellen und diese auf die jeweiligen Ursachen zurückzuführen. Dieser Zusammenhang darf sich allerdings nicht ausschließlich auf die Stoffmittelabhängigkeit reduzieren. In der Regel gibt es ein vielschichtiges Ursachenbündel, welches zum einen zur Abhängigkeit, zum anderen aber auch zu anderen neurotischen Verhaltens- und Erlebnisweisen führte.

Jeder Patient bringt sich durch seine Teilnahme am Hausalltag, an der Gruppentherapie, an Einzelgesprächen oder durch die Freizeit "ins Haus ein".

Ziel der Orientierungsphase ist es, daß jeder Patient erkennt, wo sich Ansatzpunkte für eine Veränderung seiner Persönlichkeitsstruktur finden lassen. In der Orientierungsgruppe versuchen wir, die angesprochenen Probleme zu kanalisieren und im Zusammenhang darzustellen. So kann jeder Patient sein weitgestecktes Ziel, unabhängig zu werden, in kleinere Teilziele aufgliedern. Dies kann beispielsweise der Umgang mit Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung, die Auseinandersetzung mit Autoritätspersonen, die Übernahme von Verantwortung für sich und für andere, die gefühlsmäßige Authenzität oder die aktive Freizeitgestaltung sein.

Vollständigkeit ist hier nicht wichtig, vielmehr sollen diese Teilziele erreichbare Schritte vorgeben, von denen aus sich neue Problemfelder erkennen und neue Ziele formulieren lassen.

Das Ziel der Veränderung und die zu erwartende Auseinandersetzung mit verborgenen Persönlichkeitsanteilen löst bei den Betroffenen meist Angst und Unsicherheit aus. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, daß der Abhängige jahrelang eingeübte Verhaltens- und Beziehungsmuster, die ihm Sicherheit im Umgang mit sich und anderen gegeben haben, aufgeben und zudem auf das Suchtmittel verzichten möchte.

Weiter oben habe ich den Begriff des Hilfs-Ichs und des Gruppen-Ichs erwähnt. Diese Ersatz-Ichs können dem Abhängigen die verlorengegangene Sicherheit zurückgeben, indem er sich mit den Werten und Normen, der Offenheit und der Wärme in der Gruppe identifiziert und beginnt, seine Angst nicht mehr zu verdrängen, sondern sie ausdrückt und sich ihr zu stellen. Von der Gruppe und den Therapeuten bekommt er die Wärme und Geborgenheit, die er braucht, um sich weich und verletzlich zu zeigen.

Gerade die Erfahrungen von Mitpatienten, die sich das erste Mal getraut haben, offen und emotional zu sein, können den neuen Patienten motivieren, ebenfalls zu seiner Angst zu stehen und damit einen wesentlichen Schritt auf dem Weg in eine ehrlichere und authentischere Erlebniswirklichkeit zu machen.

Am Ende der Orientierungsphase steht häufig der Wunsch des Patienten, konkrete Perspektiven für das suchtfreie Leben nach der Therapie zu entwickeln. Wir können ihn dazu nur ermutigen, denn es ist sicherlich einfacher, auf die vielen bevorstehenden Auseinandersetzungen einzugehen, wenn derjenige weiß, wofür er dies macht und welche Möglichkeiten sich ihm nach der Therapie bieten.

Vorsicht ist allerdings geboten, wenn es darum geht, inwieweit die Therapiewirklichkeit auf reale Situationen draußen übertragbar ist. Die in diesem Zusammenhang beschriebene Angst wird oftmals dazu benützt, sich nicht ernsthaft auf den Therapieprozeß einzulassen. Im Sinne von Adorno halte ich hier den Patienten entgegen, daß die Wirklichkeit in der Therapie eine "historische Alternative", also eine Utopie, ist, die mittels Solidarität von Betroffenen gelebt, erprobt und umgesetzt wird.

Erst in der letzten Therapiephase, oder noch verstärkt in der Nachsorgephase, kann es um die konkrete Umsetzung des Erlernten in die Realität gehen, kann die "Antithese" der Therapie mit der "These" der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen in Konkurrenz treten und kann der Abhängige seine eigene "Synthese" verwirklichen (vgl. Adorno, 1971, S. 133f).

- weiter -

[Home] [Lebenslauf] [Schriften] [Vorträge] [Konzepte] [Abstrakts] [Bilder] [Links]